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1.1 Was versteht man unter einem Künstler?

Jetzt schauen wir zu einem anderen Gebiet hinüber. Der wahre Lehrer des Künstlers ist die Natur, sie ist die Mutter Erde, von deren ein Künstler immer neue Kräfte erwerben kann. In diesem Falle reden wir natürlich nur über die Maler und Bildhauer, die sich mit den Naturerlebnissen immer in der tiefsten Verbindung befinden müssen. Architektur, Musik, Tanz, Schauspielkunst haben mit der Natur, d.h. Naturerlebnissen nichts oder sehr wenig zu tun. Nur Maler und Bildhauer wenden Naturelemente oder besser deren Erlebnisse als Mittel in ihren Werken an.

Die Verbindung, in welcher ein Maler oder Bildhauer mit der Natur sein kann, ist sehr vielerlei Art. Vom Falle ausgehend, wenn ein Künstler sein Werk unmittelbar vor der Natur vollendet, bis zum Falle, wenn er weder unmittelbar, noch mittels Naturstudien, also völlig nach seinen Gedächtnis- und Phantasiebildern Naturerscheinungen darstellt, gibt es unzählige Übergänge, die nach der Natur der Dinge die allerverstecktesten, mystischsten Erlebnisse des inneren Menschen sind; manchmal sogar so, dass der Künstler selbst kaum Rechenschaft geben kann, wie und durch welche Mittel sein Werk entstand. Dazu brachte man nämlich einen Grad des Selbstanalysierens, zu dem ein Mensch nur sehr selten fähig ist.

An dieser Stelle müssen wir zuerst feststellen, dass die Darstellungen von Naturerscheinungen die unentbehrlichsten Mittel des Malers und Bildhauers sind; die sind die Sprache der Kunst, Malerei und Bildhauerei. Wie Dichtung ohne Worte und zusammenhängende Sätze nicht vorstellbar ist, wie Musik Rhythmus und Harmonie nicht entbehren kann, wie der Tanz ohne Bewegungen kein Tanz ist und sein kann: so sind Malerei und Bildhauerei ohne die Elemente, die Naturerscheinungen andeuten, nicht als solche anzunehmen. Farbenfläche, die nichts darstellen, sind ebenso wenig als Bild zu akzeptieren, als man die unsaubere und über und über bekleckste Palette für kein Bild halten will. Amorphe Formen an sich sind keine Bildhauerei, noch sind rein geometrische Formen und Körper als solche aufzufassen. Im letzten Falle kann die Darstellung nur Geometrie und geometrisches Bewusstsein andeuten, nicht aber ästhetische Erlebnisse.

Eine Musik ohne ihre mathematisch-rhythmischen Grundlagen und ohne die Anpassung der Vibrationszahlen in der Nebeneinanderwirkung, die man Harmonie zu nennen pflegt, ist nur Geräusch und keine Musik.

Malerei und Bildhauerei sind also auf Anwendung von Naturerlebnissen aufgebaut, ohne welche man von Malerei und Bildhauerei gar nicht reden kann; diese Elemente sind also wesentlich und eine conditio seine qua non. D.h. nicht alles, was gemalt wird, ist Malerei und nicht alles, was plastisch ist, heißt Plastik.

Nun ist das Verhältnis zwischen Natur und Künstler sehr tiefdringend, aber auch so vielerlei Art wie verschieden die Künstler sind. Der eine drückt das, was er zu sagen hat, durch große Farbenflecken und ein Linienspiel aus, der andere nur durch Farbenflecken. Wieder ein anderer fasst alle die Formen zu größeren Einheiten zusammen, der nächste drängt tief in die Einzelheiten hinein. Das Bild von einem wirkt trotz seiner Naturtreuheit transzendental, das des anderen trotz seiner scheinbaren Oberflächlichkeit naturgetreu. Ja sogar das Maß der Anwendung von Naturelementen im Aufbau eines Kunstwerks ist nicht entscheidend in der Beurteilung, ja Wertschätzung der schaffenden Arbeit, noch der Werke selber. D.h. das Maß des Verhältnisses zwischen Künstler und der Natur beeinflusst nicht die Werte weder des Künstlers noch des Kunstwerks. Der Wert eines Kunstwerks gründet sich ausschließlich auf die Wirkung desselben, ohne Rücksicht auf die Mittel, durch welche es entstand. Dass diese Wirkung auf irgend welche Art mit den Elementen und Mitteln des Schaffens, die der Künstler in Anspruch genommen hat, in Verbindung steht, ist nicht zu leugnen; dafür können wir aber keine Rechenschaft geben, welche von den Aufbauelementen entscheidend in der Ausübung jener Wirkung sind. Ja dies ist der Punkt, wo für den Künstler selber die Bewusstheit des Schaffens aufgehoben ist, er selbst kann nicht wissen, wodurch er just diese und nicht eine andere Wirkung auszuüben fähig war.

Im Erwägen des Verhältnisses zwischen Künstler und der Natur sind wir zu feststellen gezwungen, wie oberflächlich und grundlos jene Beurteilungen von Kunstwerken sind, wenn man auf Grund dieses Verhältnisses einen Künstler und seine Wirksamkeit verurteilen will; wie es in derzeitiger Kunstliteratur sehr oft geschieht.

Oft wird ein Künstler als „Naturnachahmer“ oder zwar als „Naturkopierer“ und sein Werk als „Naturkopie“ gebrandmarkt, weil er sein Naturerlebnis bis in das Letzte wiedergeben und andeuten will. Es ist klar, dass jene Schriftsteller, die in Verbindung mit Bildern von „Naturnachahmungen“ oder „Naturkopien“ reden, dem Künstler, welcher auf ein angebliches künstlerisches Verbrechen ertappt wurde, nicht etwa schmeicheln wollen.

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