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1 Ästhetik auf dem falschen Gleis

Ob die Natur kopiert werden kann?

Wer nichts zu sagen hat, macht Aphorismen; wer noch weniger, wird ein Ästhet. Ästhetik und Aphorismen geraten nicht per Zufall nebeneinander: die ganze Ästhetik ist voll mit wohlklingenden Wendungen und Phrasen, ja Mottos und Leitsprüchen, die um die Leere mit den Produkten der meisten Aphorismenfabrikanten zu wetteifern imstande sind.

Die leeren Mottos sind nicht die Auswüchse allein der Ästhetik. Leider sind die sämtlichen nicht exakten Wissenschaften, wozu die meisten Humaniora im breiteren Sinne des Wortes gehören, voll mit ihnen. Die Tatsache gibt beinahe den Anschein, brauchte man keine wirklichen Kenntnisse, sondern nur Propagandaphrasen, durch die man jene oberflächliche Salon- und durchschnittswissenschaftliche Bildung erwerben kann, die einen sich für einen Gebildeten, oder sogar Wissenschaftler auszugeben berechtigt. Die so in Verkehr gekommenen Schlagwörter hatten vom ersten bis zum letzten eine ursprüngliche Bedeutung, welche aber im Laufe langen Gebrauchs nach und nach verschwommen sind, und führen nur zur Vernebelung der Verständlichkeit der Begriffe.

Dass Mottos meistens mehr Wert als Überlegung haben, zeigen glänzend die Ergebnisse der Politik: wer da überlegt, findet sofort die Waffen der politischen Mottos gegen sich gerichtet. Abweichend von diesem gefährlichen Gebiete, ziehen wir einige Wendungen der Kunst- und Literaturwissenschaften in Betracht. Es sind solcherlei als: Klassik, Romantik, Moderne, l` art pour l`art, Naturalismus, plen air, Symbolismus, Verismus, Analytik, Synthetik usw., die als unentbehrliche Waffen des Arsenals der Ästhetik neuerer Zeit eine erschütternd große Rolle spielen. Diese Bezeichnungen treten als die Bezeichnungen naturwissenschaftlicher Begriffe, mit etwa dem Anschein der Exaktheit auf. Man tut so, als wenn diese Termini die Bezeichnungen exakt umgrenzter und determinierter Begriffe wären; und erst bei der gründlicheren Untersuchung und Überlegung wird es klar, dass diese Bezeichnungen und Phrasen entweder oft einander wiedersprechende Begriffe unter einen Hut nehmen, oder gibt es unter dem Hut gar nichts.

Ziehen wir zum Beispiel die allzu oft in Verkehr gebrachten sog. „Ismen“ in Betracht. Da treffen wir uns mit wohlklingenden Bezeichnungen einzelner Kunstrichtungen, wie Impressionen, Pointillism, Plenairism, Expressionism usw., die etwa mit der Würde nicht in Frage stellbarer wissenschaftlicher Determinationen auftreten. Unsere Ohren sind schon an den Klang dieser Worte gewöhnt, und wir akzeptieren diese Begriffe als unentbehrliche und wichtigste kunstwissenschaftliche Termini.

Was bedeutet nun eigentlich solch ein „Ismus“? Da hinter allerlei kunsthistorischen Begriffen sich immer der Mensch versteckt, können wir unter einem gewissen „Ismus“ nichts anderes verstehen, als eine Menge von Künstlern oder Schriftstellern, die entweder in gleicher  oder wenigstens ähnlicher Art arbeiten oder gearbeitet haben; wo an der Spitze ein oder einige begabte oder mindestens glückliche Künstler, die etwas Originelles gefunden oder einen individuellen Weg betreten haben, stehen, die von einer Schar der Talentlosen ja Talentlosesten befolgt werden. D.h. es kommt ein Talent zum Vorschein, das selbst keinen Ismus, sondern nur seinen eigenen Weg gefunden hatte, dessen Oeuvre also noch keinen Ismus bedeutet; da kommen aber ein paar tausend talentlose Nachahmer, die gar keinen einzigen individuellen Gedanken haben, für die es viel leichter ist, den Weg eines anderen zu befolgen als ihren eigenen zu finden: und der „Ismus“ ist fertig.

Nun möchten wir die Frage stellen: wer eigentlich für die Kunstgeschichte und Kunstwissenschaft wichtig ist, die Begabten oder die Herde der Talentlosen? Da wird ein jeder sagen: freilich sind nur die Begabten wichtig. Wenn es so ist, was hat Kunstwissenschaft mit diesen Ismen, d.h. mit dieser Horde leerer Unbegabten zu tun?

Oder stellen wir die Frage: ist ein Künstler größer oder bedeutender dadurch, dass er eine Menge von Nachahmern hat? Oder sind die Künstler etwa unbedeutend, die keine Nachahmer hatten? Wo sind denn die Nachahmer eines Böcklin oder eines Segantini? Waren sie etwa keine großen Künstler, oder war das, was sie gesagt haben so unbedeutend, dass es nicht wert war nachzuahmen? Oder sind sie bloß von einigen wenigen nachgeahmt worden? Keineswegs. Es bedeutet nur, dass sie viel schwieriger nachgeahmt werden konnten als Cézanne, Vincent van Gogh oder Pablo Picasso.

Wenn wir also diesen allerwichtigsten Begriff der neueren Kunstgeschichte und Literatur ein klein bisschen in Betracht ziehen, stoßen wir auf den ersten Blick an schwere Widersprüche, die die Exaktheit des Begriffs im selben Momente mehr als fraglich machen.

Wo liegt eigentlich der Ausgangspunkt solch einer Entgleisung des Denkens in einem so allgemein bekannten Boden der Kunstwissenschaft? Da es selbstverständlich zweifellos ist, dass es solche geistige Richtungen gibt, die man Stil zu nennen pflegt, wie die geistige Bewegung der Renaissance oder des Klassizismus, die die europäische Menschheit im Ganzen überströmten und das geistige Leben einer jeden Nation befruchteten, ist klar, dass woher auch immer diese Geistesrichtungen stammen, es in einer jeden Nation Genien gibt, die sich in den Strom einer Weltbewegung anknüpfend, dafür doch keineswegs als bloße Nachahmer zu bezeichnen sind. Diese Richtungen, ja Stile breiteten sich nie nur auf gewissen Ebenen des geistigen Lebens aus, sondern sie umfassten sämtliche Offenbarungen des Geistes ja bis zur Mode hinab.

Sind diese „Ismen“ solcherlei Art? Keinesfalls. Impressionist kann nie ein Gelehrter sein, nur ein Maler, wie man von Renaissance auch im Gebiete der Wissenschaft reden kann. Impressionen im Sinne des Impressionismus kann nur ein Maler aufzeichnen, nicht aber ein Bildhauer, noch weniger ein Dichter oder Schriftsteller. Diese Dinge miteinander zu vermischen würde die winzigste Spur eines exakten Denkens davon entbehren. So machten Fin de siècle Kunstwissenschaftler aus den persönlichen Erlebnissen einiger französischer Maler eine geistige Bewegung. Diese Bewegung konnte nur darum entstehen, weil eine internationale Menge von Nachahmern davon eine Mode gemacht hat. Dieses einzige Beispiel – von dessen Erschöpfung in diesen paar Zeilen gar keine Rede sein kann – zeigt doch klar, wie viel Wert diese allgemeinen, in den Schulen gelehrten Leitsprüche haben.

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